Beine aus Metall

Kriegerische Auseinandersetzungen sind fürchterlich und schrecklich. Egal, wo sie geschehen.


Wjatscheslaw Kutin ist einer von Hunderten Soldaten, die heuer aus russischer Gefangenschaft zurückgekommen sind. Über (un)menschliche Begegnungen hinter Gittern, die Freude, überlebt zu haben, und seine Pläne für die Zukunft.

Als der Sohn seinen Vater zum ersten Mal nach langer Zeit sieht, macht er große Augen. Der Mann, der da im Rollstuhl sitzt, sieht so anders aus als früher. Sein Gesicht, aber vor allem sein Körper! Er geht ganz nah zu ihm hin und schiebt seine Hände in den Leerraum, dort, wo früher etwas war und jetzt nichts mehr ist. Sagt: Das gibt’s ja nicht, du hast ja wirklich keine Füße mehr! Macht nichts, antwortet der Vater, ich werde welche aus Metall kriegen. Sagt der Sohn: Ich kann dir meine Füße schenken. Antwortet der Vater: Musst du nicht!

Diese Geschichte erzählt Wjatscheslaw Kutin, wenn er vom ersten Treffen mit dem fünfjährigen Dobromyr nach seiner Freilassung aus der Gefangenschaft spricht. Dobromyr ist das Kind seiner Verlobten Anja. Er liebt ihn wie seinen eigenen Sohn.

Wjatscheslaw war Frontsoldat. Scharfschütze. Er hat sich in den ersten Kriegstagen 2022 zum Dienst gemeldet, ist nach acht Lebensjahren in Polen freiwillig in die Ukraine zurückgekehrt. Nach Kriegsbeginn hat er auch Anja kennen gelernt. Während der langen Zeit an der Front, als er verwundet wurde, und später in russischer Kriegsgefangenschaft hat er sich stets an sein Versprechen erinnert: „Ich habe meinem Sohn versprochen, dass ich zurückkomme“, sagt der 29-Jährige. Dann fährt er fort: „Versprochen ist versprochen. Ich wollte leben. Unbedingt.“

Wjatscheslaws Geschichte ist eine Geschichte vom Überleben unter widrigsten Bedingungen. Er ist dem Tod nicht nur ein Mal entkommen, sondern mehrere Male. Nach schweren Kämpfen blieb er verwundet in einem Unterstand zurück. In russischer Kriegsgefangenschaft wurde er erniedrigt und gefoltert. Mehr als ein Jahr lang war er eingesperrt, ohne zu wissen, ob er jemals freikommen würde. So wie Wjatscheslaw ergeht es Tausenden ukrainischen Soldaten in russischen Gefängnissen. Ihre Geschichten gleichen sich in vielem. Doch jede Geschichte ist einzigartig, für den, der sie erlebt hat. „Manche haben den Verstand verloren“, sagt Wjatscheslaw, wenn er sich an Kameraden erinnert. Er ist einer, der Herr über seine Geschichte sein will.

Russland führt seinen Krieg im Frühsommer 2025 besonders unbarmherzig. Ein Friedensschluss scheint weiter entfernt denn je. Die jüngsten Gespräche zwischen den beiden Kriegsparteien in Istanbul im Mai brachten kein Ergebnis. Nur in einem Bereich gibt es seit einiger Zeit Bewegung: Die Ukraine und Russland tauschen ihre Kriegsgefangenen aus. Das scheint das Einzige zu sein, was derzeit klappt.

Männer kehren zurück, Männer wie Wjatscheslaw. Er ist Anfang des Jahres freigekommen. Wie geht man mit diesen Erlebnissen um? Wie macht man weiter? Der Ukrainer spricht von einem „Überlebenstraining“, wenn er sich an die Zeit hinter Gittern erinnert.

Sieht man ihn zum ersten Mal, würde man nicht glauben, was er alles hinter sich hat. Seine leuchtend blauen Augen fallen sofort auf, sein zuversichtliches Lachen, sein kurzes rotblondes Haar, das in der Sonne glänzt. Mit seinem Rollstuhl fährt Wjatscheslaw ins Rauchereck vor dem Superhumans-Zentrum nahe der westukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg) und zündet sich eine Zigarette an. Superhumans ist ein bekanntes Rehabilitationszentrum für Kriegsverwundete. Die meisten hier warten auf künstliche Beine. Neben Wjatscheslaw ziehen andere Patienten an ihren Zigaretten und halten ein Pläuschchen. Manche sitzen in Rollstühlen, andere haben Krücken mit dabei, wieder andere gehen auf Prothesen. Das geschulte Auge erkennt, seit wann sie ungefähr hier sind: Die Rollstuhlfahrer kürzer, die Prothesengeher länger. „Ich kenne nicht mal ihre Namen“, sagt Wjatscheslaw und deutet auf die anderen. „Trotzdem unterstützen wir uns gegenseitig. Schenken einander ein Lächeln.“ Wenn der Getränkeautomat nicht funktioniert, dann rufen die Versehrten einander zu: Jetzt tritt doch mal mit dem Fuß dagegen! „Schwarzer Humor gehört dazu“, sagt Wjatscheslaw und grinst.

Bald nach seiner Freilassung ist er in die Westukraine gekommen, um Beinprothesen zu erhalten. Das ist ein längerer Prozess, denn die Prothese muss erst angepasst werden, und der Patient muss damit gehen lernen. Als „Die Presse am Sonntag“ ihn im März trifft, muss er gerade eine Zwangspause in der Physiotherapie einlegen, weil der linke Beinstumpf entzündet ist. In den folgenden Wochen wird Wjatscheslaw weiterüben und mit seinen künstlichen Beinen gehen lernen. Er hat ein klares Ziel: „Es geht sehr schnell.“

Seine Beine hat der Scharfschütze bei einem russischen Sturmangriff im Dezember 2023 verloren. In der Südukraine war das, beim Dorf Robotyne. Mehrere Tage lag er schwer verletzt in einem Unterstand. Auf Hilfe wartete er vergeblich. Schließlich nahmen ihn russische Soldaten gefangen. Beide Gliedmaßen wurden in einem Spital in Sewastopol auf der russisch besetzten Krim amputiert; sie seien nicht zu retten gewesen, sagten die Ärzte. Mehrere Monate verbrachte er dort mit anderen Schwerverletzten. Der 29-Jährige beschreibt die absurde Lage des Krankenhauses, das er nicht verlassen durfte: „Wir waren 25 Meter vom Strand entfernt. Es war heiß. Wir konnten die Badegäste sehen.“ In dem Spital hatte er neben brutalen Verhören durch den russischen Geheimdienst auch menschliche Begegnungen: ein Wachmann, der ihm Bücher von Steven King spendierte. Er spürte die heimliche Empathie von Teilen des Krankenhauspersonals, wenn ihm Krankenschwestern Kekse zusteckten.

Die späteren Stationen waren um einiges lebensfeindlicher. Als seine Wunden verheilt waren, lernte Wjatscheslaw das russische Gefängniswesen von innen kennen, seine brutalen Rituale und seine Verachtung für die gegnerischen Soldaten.

Wjatscheslaw erzählt von seiner Gefängnistortur auf dem Dach des Reha-Zentrums, hoch über den Dächern des Vororts. Der Blick fällt auf Einfamilienhäuser und Hügel. Idyllisch wirkt das. Auf dem Dach steht ein Glashaus, in dem die Männer gärtnern können, wenn sie wollen. Eines von vielen Angeboten. Wjatscheslaw zündet sich noch eine Zigarette an. Er raucht wieder, seit er in Freiheit ist.

Die restlichen Monate bis zu seiner Freilassung verbrachte er in Haftanstalten in Südrussland und Sibirien. Der Aufenthalt war für ihn von „ständigem Stress, ständigem Druck“ gekennzeichnet. Angekommen in Sibirien, durfte er sich die ersten 36 Tage nicht einmal waschen. Die Gefangenen mussten die russische Hymne singen, den Kopf gesenkt halten, es herrschte ein Sprechverbot, sie befanden sich, wie Wjatscheslaw sagt, in einem „Informationsvakuum“. Er erfuhr nicht einmal, wer zum neuen amerikanischen Präsidenten gewählt wurde. Da waren kriminelle Mitgefangene, die bei der Essensverteilung die ukrainischen Gefangenen malträtierten, da waren weitere Verhöre, bei denen regelmäßig Schläge und Elektroschocker eingesetzt wurden.

Wjatscheslaw musste all die Monate auf allen vieren kriechen, einen Rollstuhl oder ein Wägelchen zur Fortbewegung erhielt er nicht. Er erinnert sich an einen Vorfall, als er bei einer Kontrolle im Vierfüßlerstand warten musste und die Wärter einen Hund auf ihn losließen. Der Hund besprang ihn von hinten, bewegte sich, als würde er kopulieren. „Die Wärter standen da und lachten“, erzählt er. „Ich habe gesagt: Bitte nehmen Sie den Hund weg! – Was denn, gefällt es dir nicht? fragten sie. Nein, sagte ich.“ Der Hund habe ihn zu allem Überfluss noch in die Seite gebissen, fügt er hinzu. „Und dann fragt man uns: Warum hasst ihr die Russen?“

Der Ukrainer sagt, dass die Musik ihn gerettet habe. Immer, wenn es nicht auszuhalten war, habe er innerlich Lieder angestellt. Er, der vor der Vollinvasion in seiner Freizeit gerappt hat, dachte sich auch im Gefängnis Reime aus. Und er machte Sport, Liegestütze, wo immer es ging. „Ich habe verstanden, dass meine Hauptstütze meine Arme sind“, sagt er. „Ich wusste, ich würde sie brauchen, wenn ich aus der Gefangenschaft rauskomme. Ich brauchte kräftige Arme.“

Eines Abends im Jänner 2025 wird er ohne Erklärungen mitgenommen. Gemeinsam mit drei anderen Männern fährt man ihn zu einem Flughafen. Zu viert werden sie in ein Flugzeug gesetzt und heben ab, in Handschellen und mit einer Maske über dem Kopf, sodass sie kaum etwas sehen. Bis heute ist er sich nicht sicher, wo sie landeten, „vielleicht war es Moskau“. Dann erneutes Umladen in ein anderes Flugzeug. Wjatscheslaw ist unsicher, was das alles zu bedeuten hat. Ist es eine sogenannte Etappierung in ein neues Gefängnis? Wird er ausgetauscht? Er erhält keine Informationen. Bei Etappierungen behauptet das Sicherheitspersonal immer wieder, dass die Gefangenen ausgetauscht würden, das ist ein Trick zum Gefügigmachen.

Nach der abermaligen Landung kommt die erlösende Nachricht: „Sie sagten: Wir binden euch los, in zwei Stunden seid ihr zu Hause.“ Jemand nimmt ihm die Maske ab. „Zum ersten Mal seit einem halben Jahr sehe ich wieder den Himmel, zum ersten Mal wieder eine Straße.“ Er ist in Belarus. Ein belarussischer Krankenwagen fährt ihn bis zur ukrainischen Grenze. Die Tür geht auf. Vor ihm steht ein Mann mit einer Maske auf dem Kopf. Auf Ukrainisch sagt er: „Also, machen wir dir jetzt Beine aus Metall?“ Da weiß Wjatscheslaw, dass er in Freiheit ist.

Bei dem Austausch am 15. Jänner 2025 kommen 25 Männer frei. Sie gehören der Nationalgarde, den ukrainischen Streitkräften und dem Grenzschutz an. Ein Zivilist ist darunter. Der jüngste Freigelassene ist 24 Jahre alt. Der älteste 60. Wjatscheslaw ist der elfte auf der in ukrainischen Medien veröffentlichten Namensliste. Ein erstes Foto zeigt ihn auf der Schwelle eines ukrainischen Krankenwagens sitzend. Er trägt eine dunkelblaue russische Sträflingsjacke. Sein Haar ist kurz geschoren, die Wangen eingefallen, der Blick müde.

Seine Eltern und seine Freundin haben erst im September 2024 erfahren, dass er lebt. Er bekommt ein Handy, damit er sie anrufen kann.

Das alles ist nicht einmal ein halbes Jahr her. Wjatscheslaw ist im Mai aus der Reha-Klinik entlassen worden. Er lebt in Charkiw bei seiner Familie, bei Dobromyr und Anja.

In diesen Tagen ist er abermals in die Westukraine gereist, aber nur, um seine Prothese neu anpassen zu lassen. Wenn der medizinische Kram erledigt ist, kann er endlich seine Zukunft planen. Seinen früheren Job als Automechaniker wird er nicht mehr ausüben, so viel ist sicher. Vielleicht etwas mit IT, sagt er, eine Option für viele Veteranen. Dobromyr wird im September eingeschult, er soll eine unterirdische Schule in Charkiw besuchen. „Er ist ein aufgeweckter Bub, braucht Kontakt zu anderen Kindern“, sagt Wjatscheslaw. In der Zwischenzeit will er im Haushalt mithelfen. „Da muss ein Griff ausgetauscht werden, dort eine Glühbirne eingeschraubt werden.“ Wjatscheslaw will bei der Familie bleiben, „vorerst“.

Moment mal. Wieso sagt er „vorerst“? Würde er denn wieder ins Militär eintreten? Wjatscheslaw blickt auf. „Ich befürchte, Anja wird mich nicht gehen lassen.“ Er lacht, dann wird er ernst. Sowieso brauche er eine Pause, müsse das Für und das Wider abwägen, so richtig auf die Beine kommen. „Hass ist keine gute Entscheidungsgrundlage.“ Männer wie er sind gefragt als Ausbildner oder beim Geheimdienst.

In der Zwischenzeit hat er um Anjas Hand angehalten. Wie ein echter Kavalier ist er bei seinem Antrag auf die Knie gegangen und hat ihr den Ring präsentiert. Kein einfacher Move, wenn man künstliche Beine hat. Anja hat die Hände zusammengeschlagen und Ja gesagt.

Manchmal schaut er auf seinem Handy Clips von seinem Kampfeinsatz. Er hat das Rohmaterial selbst geschnitten und mit Musik unterlegt. Da sieht man ihn bei Schießübungen, beim Kochen, wie er Tiere füttert. Den Krieg vermisse er nicht, aber die intensiven Gefühle, die enge Verbundenheit mit den Kameraden, die ausgefüllten Tage. „Du schätzt jede Stunde, wenn du weißt, dass du jederzeit sterben kannst.“ Und das ist der große Unterschied zu einem herkömmlichen Leben.


Da es sich um einen zahlungspflichtigen Artikel handelt, habe ich den Text hier kopiert.

Das Original: https://www.diepresse.com/19791709/also-machen-wir-dir-jetzt-beine-aus-metall-ein-freigelassener-kriegsgefangener-erzaehlt

Zwei Bilder wollte ich nicht direkt hier einfügen. Der Link: 2025-06-19

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